Montag, 22. Juni 2015

Alte Schachtel

Sie stapeln sich in meinem Wohnzimmer: die Gewänder meiner Mutter in alten Pappkartons. Es gibt diese Bilder der eigenen Zukunft, die man nicht voraussehen kann: Nie hätte ich gedacht, dass ich mich so jung mit dem Nachlass meiner Mutter beschäftigen werde. Vielmehr nahm ich an, wir wären alle ewig. 
Im 'Nach-lass' sind es viele kleine Trennungen in jeder einzelnen Kiste. Es ist kein einmaliges good-bye auf einem Friedhof, das Loslassen im Nachhinein hat eine Materie: der Lieblingspullover, das Kleid zu meiner Einschulung und das zu meiner Hochzeit und viele Stoffe, deren Bedeutung man nur erahnen kann. Kleider machen Leute. Wenn ihre Besitzer versterben, sind sie eine materielle Erinnerung, die man anfassen kann, die mit Gerüchen an allerlei erinnert, die meine Haut berührt und mich verbindet mit den Fasern der Vergangenheit, die gar nicht so vergangen wirkt. 
Ich habe es lange aufgeschoben. Beinahe zwei Jahre ist sie unter der Erde. Der Geruch ist nicht mehr ganz so frisch, das macht ihn erträglicher. Oft habe ich darüber nachgedacht, alles für karitative Zwecke irgendwo abzuliefern: einmal raus aus dem Schrank und kein zweites Mal durch meine Hände, meine Nase und mein krank werdendes Hirn, das alles mit etwas verbindet, mit 'damals-als'. 
In diesem Moment mit meinen nackten Füßen auf den Holzdielen ist die Vergangenheit vergänglich und doch noch nicht weg. Noch ist sie hier und bedarf meiner Aufmerksamkeit. Es vergeht nicht ohne dass ich mich damit auseinandersetze. Die vielen kleinen Trennungen an Kleidungsobjekten sind letztlich kleine Schubladen, die ich noch einmal öffne, um sie dann wahrscheinlich für länger geschlossen zu halten. 
Für jeden Fremden sind es gar irgendwelche Kleider ohne weitere Bedeutungsebene und das ist auch gut so. Manchmal ist es gut, die Geschichte der Dinge nicht zu kennen. In Zeiten virtueller Auktionen auf alles Denkbare bleiben Kleider nebst ihrer Bedeutungsschwere auch immer materielle Güter, die den Bedingungen von Angebot und Nachfrage folgen. Ein wenig beruhigt mich das. Es ist eine schöne Vorstellung, dass der Lieblingspullover wo anders ein neues Leben anfangen kann und mit einer anderen wundersame Dinge erleben wird. Das bedeutet, es geht weiter, nicht alles endet mit dem Tod. 
Viele unserer Güter sind ewiger als wir selbst. Sie führen mehrere Leben mit unterschiedlichen Personen. Früher waren diese Leben oft räumlich beschränkt und lagen zeitlich weiter auseinander. Wenn ich dabei z.B. an das Vertiko meiner Großmutter denke, das sie selbst von ihrer Mutter geerbt hat und das nach ihrem Ableben an meinen Vater überging. Oft blieben die Dinge sogar an Ort und Stelle und nur die Personen herum wechselten im Laufe der Jahre. Ganze Häuser, die komplett möbliert und unverrückbar über Jahrhunderte lediglich die Generation wechselten, ab und an ergänzt durch ein neues Element. 
Mit 1-2-3-meins ist die Verweildauer und das Fernreisepotential jedweder Güter enorm im Wandel. Vieles wird utilitaristischer betrachtet: "Braucht das noch wer oder kann das weg?" Lange schon sind wir im Begriff die Wegwerfgesellschaft gegen ein ewiges 'Stühlchen-wechsel-dich' einzutauschen. Der Besitzerwechsel ermöglicht es uns, anhaftende Bedeutungen, die niemand mehr braucht, gegen ein Preisschild für die nackte Materie einzutauschen. Kapitalismus bis auf die Knochen und abseits einer Bewertung auch eine heilende Prozession für belastende Überbleibsel. 
In den letzten Jahren habe ich mir oft geschworen, gen Ende alle Güter zu verkaufen und meiner Tochter nichts als Scheine zu vererben. Nur Bares ist wahres. In der Absicht, sie zu schützen vor den vielen kleinen Verletzungen, den überflüssigen kleinen Stichen ins Herz in jeder Kiste, die da in meinem Wohnzimmer stapelt. Es wäre gelogen, es dabei zu belassen. Viele der Tränen sind goldene und die Erkenntnis, dass Trauerarbeit wie diese auch das Schöne noch einmal zurückholt, obwohl es eigentlich vorbei ist. Ich arbeite mich an ihnen ab und durch sie hindurch in ein Leben danach. Die Kleider meiner Mutter sind nicht die einzigen, die mit diesem Stühlchen die Bedeutung wechseln. Das ist das wahre befreiende Potenzial des Kapitalismus: am Ende ist alles nur eine Ware, zumindest für die, die ihre Bedeutung nicht kennen. 

Samstag, 9. Mai 2015

*** Schulanfänge ***

...am Donnerstag war es so weit: in der Reihe 'Alles neu macht der Mai' betreten wir erstmals gemeinsam den zukünftigen Schulhof meiner Tochter. Neuland in Klinker und Beton. Zur großen Pause dürfen die Baldigen kommen, die Drittklässler zu befragen, quasi auf Augenhöhe. 'Kinder fragen Kinder' heißt diese Begegnung der dritten Art und ist mittlerweile wohl an vielen Grundschulen ein Versuch, Berührungsängste zu nehmen und durch Neugier zu ersetzen. 
Wir landen in der 'Fischhalle', die da so glitschig heißt, weil es ein Aquarium gibt und weil sie wohl auch eine Art Auffangbecken für Grundschüler ist. Hier wird man abgegeben, wenn Mutti zur Arbeit muss. Hier trennen sich die Wege für mindestens 5 Stunden. Hier beginnt jeden Morgen unter der Woche die schöne, später nostalgisch werdende Grundschulzeit. Während Kinder, älter als meins, einen Kuchenbazar abbauen, stehen wir knietief, mittendrin im Neuland, links die Fische, rechts die anbahnende Direktorin. Eine Frau von bemerkenswerter Ruhe. Ich halte mich bedeckt, trete zurück, lasse dem Kind das Neuentdecken eines Ortes, der noch viel für sie sein wird, obwohl ich selber ganz aufgeregt bin. Wie wohl Drittklässler so sind? Zu meiner Zeit (und damit beginnen dieser Tage viele Gedanken) war es Klassenkampf, Schulhof, die Kleinen gegen die Großen, Nahkriegserfahrung. Heute ist das anders.
Vielleicht eine Überschrift für alles, was ich hier so erlebe. Meinem laufenden Meter wird es auch ganz anders: große Kinder, gar Schulkinder, fast Wesen einer anderen Galaxie, über die man schon viel gehört hat. Das Mengenverhältnis ist erschlagend: auf drei unerschrockene Kindergartenkinder kommt eine komplette dritte Klasse. Aus ihrer Ruhe heraus verteilt Frau Direktorin Kleine und Große in kompakte Haufen und schickt sie des Weges. Mein Kind mit drei großen Mädchen an der Hand, alle in pink, ausschließlich in pink. Das war also die dritte Klasse. Ich hatte es beinahe vergessen: Zöpfe bis zum Arsch und pink, Hauptsache pink. Sie sind erschreckend liebevoll zu meinem Baby und ich denke mir, ob ich die nochmal wiedersehe? Nichts besseres gibt es als große Mädchen mit langen blonden Zöpfen! Sie lacht wie aus der Zerealienwerbung. Noch denkt sie es sei ein himmlischer Ort diese Schule. 
Mich nimmt die Direktorin an die Hand, anbei die beiden anderen Übriggebliebenen. Wir werden auf den Schulhof geführt. Unter einer Linde ein Tisch mit Tchibo Tischdecke und Keksen. Strahlend erwartet uns die Elternvertreterin an einem strahlenden Tag zu strahlenden Keksen. Die Kinder sind vergessen und finden es gut. Wir stellen Fragen. Wir lernen Wörter: 'Drehtürprinzip' ist die Lösung für schlaue und für doofe Kinder. Wer nicht ist wie er sein soll, darf 'drehen' und zwar 'nach unten' oder 'nach oben' und das auch noch fachspezifisch. Einer 'drehte sogar mal in Mathe bis ins Gymnasium'. Aha. Ich hätte wohl im Abitur noch in Mathe in die Grundschule gedreht. Ein Glück, dass es das bei uns nicht gab!  Der Segen der Spätgeborenen. Eine Frau stellt Fragen, die sie outen, nicht beim Elternabend gewesen zu sein. Latent aggressive Geduld an allen Fronten und dazwischen nach Keksen stierende Kinder und Fehlversuche einer pädagogischen Antwort, die dann doch nur ein 'Nein' ist. Vielleicht hat sich so viel gar nicht geändert?
Ich sitze im Neuland in der Sonne und warte auf ein Kind, das ruhig noch etwas wegbleiben darf. Ich genieße das Überflüssigwerden.

Mittwoch, 6. Mai 2015

*** Ein neuer Teller ist wie ein neues Leben ***

Oh, das wird eine lange Geschichte: ich und die Teller. Keine Angst wir sind noch nicht bei den Sammeltellern der Sechziger Jahre angelangt, aber vielleicht gefühlt manchmal kurz davor. An allem ist eigentlich meine Mutter schuld. Wie so oft. Danke Freud.
Zeitlebens hatte sie einen Faible für Porzellan. Die Schränke voll und essen kann man auch schlecht von mehr als einem Teller pro Mahlzeit. Ihre Geschirre füllten nicht nur die Küche, sondern auch das Wohnzimmer. Zu frühen Zeiten hätte man sie als gut ausgestattet bezeichnen können, zu späten war es ein Tick, eine Leidenschaft, ein Fass ohne Boden. Sie wiederum hätte wohl ihre Mutter bezichtigt, die Misere angezettelt zu haben.
Es gibt da dieses Geschirr, nunmehr in der dritten oder gar vierten Generation. Ich weiß es nicht genau. Stichwort: Zwiebelmuster. Ein Klassiker. Die Teller meiner Kindheit. Als ich viel zu früh (und im Nachhinein viel zu naiv) heiratete (keine Sorge das ging auch vorbei) bekam ich es 'aus der warmen Hand' wie man so herrlich grotesk sagt. Der Grund war natürlich nicht meine Hochzeit, sondern, dass meine Mutter nach 45 Jahren mal 'etwas Neues brauchte'. Die ganzen Zweit- und Drittgeschirre mal ausgenommen, die sie sich unter selbigem Vorwand bereits über die Jahre zugelegt hatte.
Nein! Es musste ein neues Geschirr für den täglichen Gebrauch her. Das (All-) Tägliche war immer das Zwiebelmuster. Sie war damit aufgewachsen, ich war damit aufgewachsen... An Tagen war es unklar, ob man es Fluch oder Segen nennen sollte. Als ich es dann endlich bekam, räumte ich meine alten Teller aus, gut verpackt und ab auf den Dachboden. Ich war fest entschlossen, dass jetzt eine neue Ära angebrochen war, ein Generationenmoment ohne Rückkehr. Einbahnstraße Familientradition. Damals wohnte ich mit dem Alt-Eheman in einer sehr kleinen Wohnung mit einer noch sehr viel kleineren Küche ohne Fenster und überhaupt mit viel ohne. Zum Beispiel ohne viele Schränke. Für das, was sich in dritter oder vierter Generation so angesammelt hatte, keine Chance. Egal, wenn die Stunde schlägt und die Tradition ihre Opfer fordert, müssen wir wahrlich historische Mühen vollbringen, uns einzureihen in die mütterliche Linie. Fortan hatte ich immer kistenweise Porzellan auf dem Dachboden für "Wenn-mal-Besuch-kommt" und zwar mindestens vier Fussballmannschaften auf einmal und das in unsere immer noch sehr kleine Wohnung mit sehr kleiner Küche und kleinlichen Nachbarn. Irgendwie kam es dazu nie.
Oh, Wunder! Stattdessen zog ich um, nicht einmal, nicht zweimal, nein dreimal in fünf Jahren. Auch meine Freunde lieben mein Geschirr, besonders jenes, das sie nie unverpackt gesehen haben und das getragen nicht leichter wurde als die Erbsünde eben so ist. Ich hatte alles: Suppenterrinen, fünf verschiedene Teekannen, Kerzenständer, Tee-Eier, Schüsseln in rund und eckig und jeder Größe, Blumenvasen, Duftlampen. Ich hatte alles und von allem jede Menge. Ich hatte mehr Geschirr als Freunde. Zwiebelmuster bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag.
Dann geschah Folgendes: ich bekam Sehnsucht nach einer einfacheren Zeit, nach den vorehelichen Tellern, nach schwedischem Billigporzellan ohne Suppenterrinen, nach meinen hippiesken handgetöpferten Tassen, nach anderen Farben als Blau-Weiß. Nach dem Ende der Ehe waren ich und das Zwiebelmuster in der Krise. Zumal das Kleinkind an meinem Tisch jede Mahlzeit mit dem Erbgeschirr sehr unentspannt gestaltete. "NICHT DEN TELLER!!!" Also räumte ich das  Erbe auf den Dachboden zum Rest und wartete auf bessere Zeiten, die diesen Tellern würdig waren. Zwischenzeitlich hatte sich die Frage in Telefonaten mit meiner Mutter eingeschlichen: "Und wie geht es dem Zwiebelmuster?" Ungefähr so dämlich wie "Hast Du noch alle Tassen im Schrank?". Es folgten Jahre mit wechselnden Tellern und Tassen.
Ein mir erst spät auffallender Erbschaden hingegen war, dass ich selbst porzellanoid veranlagt zu sein scheine. Und das ist das erste Mal, dass ich das öffentlich bekenne! Ein Geständnis, das meine Mutter bis in den Tod nie ablegte. Letztens bei Karstadt war es wieder günstig. Unlängst auch der Lieblingsgrund meiner Mutter für Spontankäufe in horrender Höhe. Eigentlich hatte ich nach gar nichts gesucht und am Ende hatte ich ein neues Geschirr. Es sind die Teller und Tassen meiner guten alten amerikanischen Freundin, die ich gestern erwähnte und die im letzten Jahr den Sprung zurück über den großen Teich schaffte, mich in Traurigkeit zurücklassend.
Das ist eine Sache, die Teller können: sie erinnern uns an schöne Zeiten mit schönen Menschen. Ich will nur so viel sagen, es ist nicht das erste 'Gedächtnisgeschirr', das ich angeschafft habe. Es gibt auch ein Teeservice im Gedenken an die Mutter einer anderen Freundin, bei der ich prägende Jahre mit Darjeeling und hauchdünnen Teetässchen verbrachte. Das Leben ist voller Geschirr. Oder vielleicht nur meins, aber wie gesagt, Schuld hat meine Mutter!
In regelmäßiger Unregelmäßigkeit wechsle ich also immer noch die Tischwaren und gestern, getreu meines Mai-Mottos, war es wieder so weit. Das erste Frühstück auf neuen Tellern fühlt sich an wie im Hotel. Strahlende Augen der fast Sechsjährigen. Neue Teller machen glücklich! (Sie machen auch arm, aber das sei dahingestellt). Es gibt mir das Gefühl, dass die Dinge nicht immer gleich sind, dass nichts bleibt. Nüchtern betrachtet, werden auch diese Teller gezählte Tage haben und dann kommt etwas Neues oder vielleicht etwas Altes, denn alte Liebe rostet nie. Für schlechte Zeiten habe ich immer noch kistenweise Zwiebelmuster auf dem Speicher.

Dienstag, 5. Mai 2015

*** Alles neu macht der Mai ***

... oder wie ich jeden Tag etwas Neues anfing. 
Es geht uns viel zu oft darum, Dinge zu beenden oder bestenfalls zu vollenden. Wie oft hält mich das allein aber davon ab, etwas Neues zu beginnen. 

Diese Sache mit "Wenn-ich-es-anfange-muss-ich-es-auch-fertig-machen". 

Nix muss ich. 
Eine gute alte amerikanische Freundin sagte mir mal, anlässlich eines Strickpullovers, der bis dato in der Schublade unter meinem Sofa ablagert und auf bessere Zeiten wartet: "Es geht nicht immer um das, was dabei rauskommt, sondern manchmal auch um das, was drinsteckt." 
Manchmal kommt platt gesagt nichts bei rum und trotzdem sind wir nachher nicht dieselben wie vorher und das ist der Sinn der Sache. 
Oh, was bin ich verzweifelt an diesem schwarzen Pullover mit Nadeln der Größe drei für meinen stattlichen, ausgewachsenen Körper. Heute weiß ich, das war nicht zu gewinnen. Vorher wusste ich das nicht. Da sah ich das Bild und eine Anleitung und dachte, alles klar, kriegen wir hin. Nix war. Naja nicht nichts, aber zumindest nichts, was man tragen könnte. 
Ja, ich könnte das Ganze wieder aufträddeln und siegessicher mit den Erkenntnissen der erste Runde im zweiten Durchgang doch noch Erfolg haben, aber ginge es genau darum, würde das Wollobjekte nicht seit vier Jahren da liegen, wo es liegt. 
Und es liegt da gut, weil es mich erinnert an schmerzhafte Erkenntnis. Wie die wahrhaftige Yogi-Tee-Losung mal besagte: "Erkenntnis kann man nicht lernen." 
An derartigen 'Verstrickungen' habe ich erkannt, dass es manchmal am Anfang plausibel scheint und dann plötzlich nicht mehr. Das tut weh. Erst ganz doll, dann mit den Jahren weniger. 
Mit meiner kleinen Mai-Reihe werde ich also nun jeden Tag von Neuem berichten, das ich frohen Mutes, unter völliger Ausblendung des Ergebnisses beginne. Es wird sich zeigen (so hoffe ich, so wahr mir Gott helfe), ob das Neue an sich, das Anfangen auch ohne Ende einen Zugewinn darstellt, ob man auch ohne Ergebnis weiterkommen kann. 
Wenn nicht, können wir ja immer noch weitermachen wie gehabt, nicht wahr?

Donnerstag, 19. Februar 2015

*** Partnerwahl digital ***






Er: Weinglas in der Hand, Pullover lässig über dem Hemd platziert, Blick in die Ferne. 
Ja nicht zum Publikum! Jetzt bloß nichts darstellen wollen. 
Wir müssen uns doch nichts beweisen. 
Wir sind alle nur hier, weil wir eigentlich nicht daran glauben, aber man muss es ja mal versuchen, damit man sagen kann und so weiter. 
Bild Nr. 2: Er: outdoor. Fels, Fluss, Firmament- die Männlichkeitssymbolik auf Anschlag. 
Im Text zur Person wägt man(n) sich philosophisch. Ein Wirrwarr aus ‚suchen‘ und ‚finden‘ und ‚gefunden werden wollen‘ und überhaupt alles sehr gewollt. 
Immerhin: der Wille war da, Ergebnis: null. Ich könnte kaum gelangweilter sein. 

Digital ist der sich vermarktende Mann eine bessere Version von sich selbst und offen gestanden ist selbst diese wenig beeindruckend. 
Ich frage mich, was ich hier kaufen kann. Ich will konsumieren. 
Ich will es so sehr, dass ich bereit bin über alles hinwegzusehen, was sich mir in den Weg stellt, aber dieses Gesicht! 
Weißt Du, da… Ich weiß auch nicht. Geht es nicht ein bisschen weniger. 
Egal was, einfach weniger. So insgesamt. So nicht so sehr auf die Fresse. 
Wir müssen alle an unserer Affektkontrolle arbeiten. 
Und mit alle meine ich mich und die Gesellschaft und wir Deutsche ganz besonders und auch wegen der Geschichte. 
Aber es darf doch noch erlaubt sein, nein, in der Demokratie MUSS es erlaubt sein, dass ich dazu etwas sage. Wenn ich jetzt schweige, geht Platon die Wände rauf. 
Ich veratme das Ganze. Das habe ich im Geburtsvorbereitungskurs gelernt. Ich kann die Sonne einatmen, ich muss es nur wollen. 
Aber zurück zu Dir! Hobbys? Siehst Du und ich wusste das! Spätestens bei dem Outdoor-Bild dachte ich: Live Rollenspiele und bähm, gleich ganz oben. 
Jetzt fehlen noch die Statements zur politischen Einstellung, aber offen gesagt, ich bin mir nicht sicher, ob ich das jetzt verkrafte. 
Ich habe ein wenig Angst. Ich sitze allein vor meinem Computer. 
Weißt Du, ich glaube für heute, reicht’s auch, aber auf bald mal und hey, also dufter Typ und so. 
Du noch Single? Ja, ja ich weiß, hörst Du oft. Gute Nacht!

*** Da, wo das Buch lebt ****



In letzter Zeit verbringe ich viele Stunden in einer großen Bibliothek, denn ich werde dafür bezahlt, es ist gewissermaßen mein Job. Also sitze ich hinter einer der vielen Theken und tue so als gehöre ich dazu, um dann wenn jemand kommt und mich etwas fragt, zu erklären, dass ich nicht dazugehöre. Aber das ist hier auch gar nicht entscheidend, sondern die schlichte Tatsache, dass ich regelmäßig sehr viel Zeit damit verbringe, hinter einer Theke Menschen in Bibliotheken zu beobachten. Und das ist etwas ganz anderes als in einem Straßencafé Passanten zu belauern. Zumindest möchte ich das behaupten. In keinem meiner bisherigen Jobs habe ich so viele komische Menschen getroffen wie ich es jetzt an einem Tag in der Bibliothek tue. Während bereits meine Kollegen, also die Menschen auf meiner Seite der Theke sehr besonders sind (und hier sei nur der Kollege erwähnt, der jeden seiner Sätze mit „ja“ beendet), ist die eigentliche Bühne doch jenseits meines Tisches.
Gestern kam dieser alte Herr, meiner Einschätzung nach emeritierter Professor, und setzte sich hin. Er hatte kein eindeutiges Thema für eine Unterhaltung, aber das schien niemanden zu stören. Man begrüßte ihn gleich mit Namen und er begann zu erzählen, dass er am Wochenende auf diese Tagung der Numismatiker fahren würde und dass das alles so kompliziert sei mit den Bussen am Wochenende, zumal wenn man wie er nicht in der Stadt lebe und seine Frau habe ja immer so viel Verständnis und das schon seit 56 Jahren. Er käme ja jeden Tag hier her, sonst würde ja nichts werden und außerdem sei das seiner Frau zu viel, wenn er den ganzen Tag zu Hause 'rumlungere'.
Dass Bibliotheken also anscheinend Orte sind, die Menschen anziehen, die jemanden zum Reden brauchen, leuchtet mir irgendwie ein und auch die Tatsache, dass Zentrale Informationen nicht nur Auskunft über bibliotheksverwandte Themen geben, sondern eben auch zum Leben, Altern und Sterben oder zumindest der Angst davor. Es beruhigt mich in gewissem Maße, dass es solche Orte gibt.
Aber dann kam Luise. Und sie stellt sich auch noch als solche vor: „Hallo, ich bin Luise und ich frage mich wie das mit dem Buch geht.“ „ Was jetzt genau?“, will ich fragen und besinne mich in letzter Sekunde auf meine Nichtzuständigkeit. Luise ist sehr groß und sie hat sehr langes, sehr fettiges Haar. Sie trägt einen bodenlangen Rock mit Strickpullover (es sind 32 Grad vor der Tür!) und ich würde alles darauf verwetten, dass sie in den 90igern als Mitglied der Kelly Family durchgegangen wäre. Damals nannte man das 'kellyesk'. Jetzt ist ihr Anblick irgendwie traurig, aber sei es drum, dass wäre kein Grund für eine Vorverurteilung. Luise ist gekommen wie sie ist und sie hat ein Problem: das mit dem Buch. Was nochmal? Sie weiß es auch nicht so recht. Irgendwie würde man meinen, wenn es ein Problem gibt, das eine Bibliothekarin hinter einer Theke mit dem Namen 'Zentrale Information' klären könnte, so hätte es mit der Ausleihe zu tun oder einer neueren Auflage in Fernleihe oder der Beschädigung des Exemplars oder irgendwas in der Art. Aber nein. Luise hat das Buch gelesen und jetzt hat sie Fragen. Es geht um Infrastrukturpolitik im Kanton Bern in den Jahren 1790-1850. Und in ihrem halbstündigen Vortrag zum Thema kristallisieren sich tatsächlich Ergebnisse intensiver Lektüre, aber warum (in Gottes Namen!) sie meint, dass man an einer 'Zentralen Information' ausgewiesene Experten zu genau diesem Thema versteckt, bleibt so offen wie ihr sehr langes, sehr fettiges Haar.
Es ist Mittagspause und der Mann, der jeden Satz mit „ja“ beantwortet zieht sich mit seiner Brotdose zurück und ich frage mich, ob er bei seiner Mutter wohnt und ob sie immer noch seine Brote schmiert. Ich sehe ein, dass diese Frage zu weit gehen würde und packe meine Sachen. Zumindest für heute.

*** Me, Myself und die Mikrowelle ***



Als der Sozialismus ging, ich war gerade fünf geworden, kam nicht nur Hanuta in den Konsum, sondern auch eine Mikrowelle in unser Haus. Meine Mutter war verwirrt. Im realexistenten Sozialismus hatte sie gelernt, dass eine gute Mutter war, wer vollzeit berufstätig war und die Kindererziehung spätestens ein halbes Jahr nach der Niederkunft  in die Obhut der staatlichen Anstalten gab. Nun kam ich in die Schule und diese endete 13 Uhr. Zudem hatte sich meine Mutter selbstständig machen müssen, erstens wegen der Treuhand und zweitens, weil es modern war. So unendlich modern wie das Selbstständigmachen war 1990 in Ostdeutschland nur eines: die Mikrowelle.  Und beides ergänzte sich ganz wundervoll an dem Punkt, an dem ich, gerade Erstklässlerin geworden, mittags allein nach Hause kam und Hunger hatte. Alles, was ich also lernen musste um mit meinen 7 Jahren in der neuen Moderne des Westens anzukommen, war die Bedienung einer Mikrowelle.  Es war keineswegs so, dass meine moderne, selbstständige Mutter nach ihrem nicht mehr ganz so pünktlichen Feierabend noch selbst kochte. Nein, auch da hatte der Westen eine Lösung parat, die sich geschmeidig ins Gesamtbild fügte: die 5-Minuten-Terrine. Nur noch Wasser hinzufügen, 2 Minuten am Rädchen einstellen und ‚Start‘. Heraus kamen so gruselige Gerichte wie Kartoffelbrei mit (sägespäneartigen) Fleischklößchen und Ratsherrentopf, eine Suppe mit Nudeln und ‚Gemüse‘.  
Spätfolgen
Welche Konsequenzen das auf meinen sich noch in der Entwicklung befindlichen Verdauungsapparat hatte, frage ich mich bis heute. Zumal dieser Übergang aus der sozialistischen Kindergartenküche, die hauptsächlich aus Kartoffeln und Kraut bestand, hin zur modernen westlichen Art der Ernährung  ein recht schneller war. Ich habe es überlebt. Wie bleibt noch zu klären. Vielleicht deshalb, weil ich jede Menge Spaß hatte. Besonders mit der Erwärmung nicht-mikrowellengeeigneter Produkte jeder Art: schmelzende Plastik, explodierende Schaumküsse (die man damals noch politisch unkorrekt 'Negerküsse' nannte) und am allerliebsten: Metall. Denn nur das machte diese wunderbaren blauen Blitze, die mich an das Neujahrsfeuerwerk erinnerten und bis heute faszinieren. Als Jahre später unsere Mikrowelle den Dienst quittierte, war ich die Einzige, die wusste warum. Denn natürlich hatte  mein Vater, seines Zeichens Elektroingenieur, alle nötigen Bedienungsanweisungen in schier endlosen Vorträgen mehrfach zum Ausdruck gebracht. Wie hätte ich sonst wissen sollen, dass es blaue Blitze gibt, wenn man das Geschirr mit Goldrand verwendet? Noch besser war die Kombination aus Goldrand und Löffel in der Tasse. Der Kakao, der dabei erwärmt wurde, war dann lediglich noch Statist in meinem Lieblingsspiel zur Wendezeit. Zu den Spätfolgen kann ich sagen, dass meine Physiknote nie schlechter als zwei war und dass ich bis heute keine Geschmacksverstärker verdauen kann. Mikrowellen benutze ich immer noch. Nachdem ich mal eine in Brand gesetzt habe bei dem Versuch Aufbackbrötchen zuzubereiten, allerdings mit etwas mehr  Vorsicht.