Sie stapeln sich in meinem Wohnzimmer: die Gewänder meiner Mutter in alten Pappkartons. Es gibt diese Bilder der eigenen Zukunft, die man nicht voraussehen kann: Nie hätte ich gedacht, dass ich mich so jung mit dem Nachlass meiner Mutter beschäftigen werde. Vielmehr nahm ich an, wir wären alle ewig.
Im 'Nach-lass' sind es viele kleine Trennungen in jeder einzelnen Kiste. Es ist kein einmaliges good-bye auf einem Friedhof, das Loslassen im Nachhinein hat eine Materie: der Lieblingspullover, das Kleid zu meiner Einschulung und das zu meiner Hochzeit und viele Stoffe, deren Bedeutung man nur erahnen kann. Kleider machen Leute. Wenn ihre Besitzer versterben, sind sie eine materielle Erinnerung, die man anfassen kann, die mit Gerüchen an allerlei erinnert, die meine Haut berührt und mich verbindet mit den Fasern der Vergangenheit, die gar nicht so vergangen wirkt.
Ich habe es lange aufgeschoben. Beinahe zwei Jahre ist sie unter der Erde. Der Geruch ist nicht mehr ganz so frisch, das macht ihn erträglicher. Oft habe ich darüber nachgedacht, alles für karitative Zwecke irgendwo abzuliefern: einmal raus aus dem Schrank und kein zweites Mal durch meine Hände, meine Nase und mein krank werdendes Hirn, das alles mit etwas verbindet, mit 'damals-als'.
In diesem Moment mit meinen nackten Füßen auf den Holzdielen ist die Vergangenheit vergänglich und doch noch nicht weg. Noch ist sie hier und bedarf meiner Aufmerksamkeit. Es vergeht nicht ohne dass ich mich damit auseinandersetze. Die vielen kleinen Trennungen an Kleidungsobjekten sind letztlich kleine Schubladen, die ich noch einmal öffne, um sie dann wahrscheinlich für länger geschlossen zu halten.
Für jeden Fremden sind es gar irgendwelche Kleider ohne weitere Bedeutungsebene und das ist auch gut so. Manchmal ist es gut, die Geschichte der Dinge nicht zu kennen. In Zeiten virtueller Auktionen auf alles Denkbare bleiben Kleider nebst ihrer Bedeutungsschwere auch immer materielle Güter, die den Bedingungen von Angebot und Nachfrage folgen. Ein wenig beruhigt mich das. Es ist eine schöne Vorstellung, dass der Lieblingspullover wo anders ein neues Leben anfangen kann und mit einer anderen wundersame Dinge erleben wird. Das bedeutet, es geht weiter, nicht alles endet mit dem Tod.
Viele unserer Güter sind ewiger als wir selbst. Sie führen mehrere Leben mit unterschiedlichen Personen. Früher waren diese Leben oft räumlich beschränkt und lagen zeitlich weiter auseinander. Wenn ich dabei z.B. an das Vertiko meiner Großmutter denke, das sie selbst von ihrer Mutter geerbt hat und das nach ihrem Ableben an meinen Vater überging. Oft blieben die Dinge sogar an Ort und Stelle und nur die Personen herum wechselten im Laufe der Jahre. Ganze Häuser, die komplett möbliert und unverrückbar über Jahrhunderte lediglich die Generation wechselten, ab und an ergänzt durch ein neues Element.
Mit 1-2-3-meins ist die Verweildauer und das Fernreisepotential jedweder Güter enorm im Wandel. Vieles wird utilitaristischer betrachtet: "Braucht das noch wer oder kann das weg?" Lange schon sind wir im Begriff die Wegwerfgesellschaft gegen ein ewiges 'Stühlchen-wechsel-dich' einzutauschen. Der Besitzerwechsel ermöglicht es uns, anhaftende Bedeutungen, die niemand mehr braucht, gegen ein Preisschild für die nackte Materie einzutauschen. Kapitalismus bis auf die Knochen und abseits einer Bewertung auch eine heilende Prozession für belastende Überbleibsel.
In den letzten Jahren habe ich mir oft geschworen, gen Ende alle Güter zu verkaufen und meiner Tochter nichts als Scheine zu vererben. Nur Bares ist wahres. In der Absicht, sie zu schützen vor den vielen kleinen Verletzungen, den überflüssigen kleinen Stichen ins Herz in jeder Kiste, die da in meinem Wohnzimmer stapelt. Es wäre gelogen, es dabei zu belassen. Viele der Tränen sind goldene und die Erkenntnis, dass Trauerarbeit wie diese auch das Schöne noch einmal zurückholt, obwohl es eigentlich vorbei ist. Ich arbeite mich an ihnen ab und durch sie hindurch in ein Leben danach. Die Kleider meiner Mutter sind nicht die einzigen, die mit diesem Stühlchen die Bedeutung wechseln. Das ist das wahre befreiende Potenzial des Kapitalismus: am Ende ist alles nur eine Ware, zumindest für die, die ihre Bedeutung nicht kennen.